Buchbesprechungen

Der Zauber Indiens

Unter dem Titel „Der Zauber Indiens“ präsentiert der Gestenberg Verlag in diesem Sommer ein textiles Handbuch der besonderen Art. Es ist ein wahrer Augenöffner für all jene, die sich für Stoffe ebenso wie für Herstellungstechniken interessieren und konzentriert sich thematisch auf Indien, das eine Jahrtausende alte Tradition und Geschichte der Textilherstellung besitzt. So belegen archäologische Funde, dass bereits um 6000 v. Chr. in Südasien Textilien produziert worden sind, wenn auch die ältesten erhaltenen textilen Überreste aus der Zeit von vor 2000 Jahren stammen.

Wie in einem Katalog werden in diesem Band von Avalon Fotheringham, der Kuratorin für südasiatische Textilien am Victoria and Albert Museum in London, über 700 Stoffe der dortigen Sammlung präsentiert. In sorgfältig ausgewähltem Layout und in höchst qualitätsvollem Druck bietet dieser Band nach einer lehrreichen, auf neuestem Forschungsstand basierenden Einführung sowie einem Kapitel über die Techniken der Herstellung der abgebildeten Muster, eine in drei Hauptkategorien unterteilte Sammlung der indischen Textilmuster. Unterschieden werden somit florale, figürliche sowie abstrakte und geometrische Muster.

Die ersten indischen Stoffe der Sammlung des Victoria and Albert Museums stammen aus einem Ankauf von insgesamt 155 indischen Textilien auf der Londoner Weltausstellung von 1851. Nachfolgend kamen durch weitere Ankäufe und Schenkungen zahlreiche textile Kostbarkeiten hinzu, wie etwa antike Fragmente, luxuriöse Hofkleidung, heilige Tempeltücher, aber auch Gebrauchs- und Handelswaren. Ebenso beinhaltet die Sammlung langfristige Leihgaben verschiedener Besitzer. Somit ist die textile Kollektion auf über 10.000 Stoffe vom Subkontinent angewachsen.

Die Systematisierung der reichen Stoffauswahl vereint nicht allein die Vielfalt der Kombinationen in Web- und Drucktechniken, Farbgebung und Musterung. Aufschlussreich erzählen die Stoffe über ein komplexes Handelsnetz, das sich von Indien aus im Laufe der historischen Entwicklung über die ganze Welt ausbreitete. Da in Indien seit alters her Stoffe für andere Regionen mit unterschiedlichen religiösen Anschauungen, ästhetischen und traditionellen Ansprüchen gefertigt wurden, zeigen die Hersteller eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit: Sie passen sich an die Wünsche und Anforderungen ihrer Abnehmer an und reagieren letztlich auf die Anforderungen des Marktes. Ihre große Handwerkskunst sorgt zudem für die Zufriedenheit ihrer Kunden. Zugleich haben indische Produzenten mancherorts traditionelle indische Motive und Farbkombinationen eingeführt, die in bestehende oder neu entstehende textile Kommunikationssysteme aufgenommen wurden. Indem die Kuration und Autorin Avalon Fotheringham uns diese Welt der textilen Sammlungsbestände durch ihre tiefgründigen Analysen und Vergleiche erschließt, zeigt sich einmal mehr, wie die Geschichte der Textilherstellung eine Kulturgeschichte der Menschheit präsentiert. Noch dazu lädt dieser liebevoll gestaltete Band auf 400 Seiten zum Schwärmen ein, wenn man ihn Seite für Seite, Muster für Muster durchblättert und voller Bewunderung für so viel Schönheit, Fantasie und Innovation das tägliche Einerlei auf den Straßen umso mehr bedauert.

Avalon Fotheringham
Julia Paiva Nunes (Übers.)
Anke Wagner-Wolff (Übers.)
Der Zauber Indiens. Über 700 Stoffe
400 Seiten, 26 x 20 cm
ISBN 978-3-8369-2164-0
Gerstenberg Verlag